Neuerscheinungen

Hervé le Tellier: Die Anomalie

Die Passagiere eines Flugs von Frankreich nach Amerika entgehen nur knapp einem Unglück. In einer Unwetterfront droht ihr Flugzeug abzustürzen, landet letztendlich unbeschadet.

Irritiert zeigt sich anfangs vor allem der Pilot, der mehrfach seine Identität und das aktuelle Datum per Funk bestätigen soll. Solch vehementes Nachfragen, das war ihm noch nie passiert.

Es stellt sich heraus, genau dasselbe Flugzeuge war bereits vor drei Monaten gelandet. Was war passiert? Und jetzt, wo die Personen alle zwei Mal auf der Erde wandeln, was tun?

Herve le Tellier hat mit seinem außergewöhnlichen Gedanken – und Sprachspiel in Frankreich bereits eine große Leserschaft begeister und den renommierten Goncourt-Preis, gewonnen.

Es ist aber auch ein großer Spaß „Die Anomalie“ zu lesen. Ob es die unzähligen Verweise auf andere Bücher sind oder die philosophischen Fragen, die der Roman immer wieder berührt.

Allein die Detailverliebtheit mit der die Figuren beschriebe werden lässt keine Wünsche offen.

Ein witziger, intelligenter und komplexer Roman, der Viellesern genauso viel Freude bereiten wird, wie Leuten, die ab und an zum Buch greifen.

spe

  • Autor/enHervé le Tellier; Übersetzung: Romy Ritte, Ritte, Jürgen
  • VerlagRowohlt
  • Preis22€
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Clinton/Penny: State of Terror

Hillary Rodham Clinton und Louise Penny: State of Terror

Busexplosionen in europäischen Großstädten, bei denen gezielt Atomwissenschaftler ausgeschaltet und Kollateralschäden in Kauf genommen werden. Eine geheimnisvolle E-Mail Botschaft aus dem Iran gelangt zwischen zwei Anschlägen an eine wenig einflussreiche Mitarbeiterin des Außenministeriums der USA. Die US-Außenministerin, die mit dem US-Präsidenten eigentlich überhaupt nicht kann, tritt auf den Plan, um u.a. in den Oman, den Iran und nach Russland jettend zu verhindern, dass drei von Terroristen in US-Städten platzierte Atombomben hochgehen. Dabei sind undurchsichtige Gestalten im Weißen Haus, die zu putschen drohen, aktiv am Terror beteiligt.

Three Pines – Pennys Dorf aus Ihrer Gamache-Reihe, sowie Figuren aus den Romanen kommen ebenfalls am Rande vor. Mich persönlich hat Pennys Anleihe an Ihre Geschichten aber eher gestört als das ich sie gelungen fand.

Eine sehr familienbewusste, dynamische und clever dargestellte US-Außenministerin, die ohne Scheu in alle politischen Haifischbecken springt, begleitet dabei stets von ihrer treuen Freundin, ist die große Heldin dieses Romans. Doch leider zeichnet das Buch auch ein überkommenes Bild: Die USA sind „die Guten“ und die anderen, Pakistan, Afghanistan, Iran, Russland – das sind „die Schurken“, bewusst, mit allen Facetten gezeichnet.

Für mich unterhaltsam, wegen des guten Plots und der Spannung sowie einer hohen Sorgfalt bei den Beschreibungen sowohl der Länder als auch politischer Protokolle; ansonsten doch etwas zu dick und mit sehr verklärtem US-Blick auf die Welt.

Letztendlich, ein spannendes Buch zum Weglesen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

  • Autor/enHillary Rodham Clinton und Louise Penny
  • VerlagHaperCollins
  • Preis24€
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Alexis Schaitkin: Saint X

Familienurlaub auf einer Karibikinsel 1995. Alles scheint wie immer. Doch dann wird die 18jährige Tochter Alison tot aufgefunden. Unter Mordverdacht geraten zwei junge Insulaner, doch deren Alibi wird von der Inselpolizei bestätigt.

Zurück in den USA zieht die Familie fort aus New York. Den Schmerz und die Trauer um Alison nehmen sie mit. Die siebe Jahre alte Claire spürt den Riss in der Familie. Sie selbst verliert die große Schwester, die sie geradezu verehrt aber auch beneidet hat: Alison war schön, der Liebling der Eltern und das Bindeglied zwischen ihr und den Eltern.

Viele Jahre später zieht Claire zurück nach New York.

Eines Tages erkennt sie in dem Taxifahrer Clive einen der mutmaßlichen Mörder ihrer Schwester. Sie beschließt, ihn kennenzulernen. Warum sie das möchte, weiß sie nicht zu sagen.

Aus dem anfänglichen Beobachten wird eine Obsession. Claire vernachlässigt ihre Freunde und ihren Job. Ihr Leben besteht nur noch aus dem Hören des Tagebuchs ihrer Schwester, das diese auf Kassetten aufgenommen hatte, und dem Beobachten Clives. Schließlich wird er ihr von der Nacht erzählen, in der Alison starb.

„Saint X“ ist ein sehr gut komponiertes Buch, das weit über einen Krimi hinausgeht: Es ist eine Gesellschaftsstudie rund um Klasse und Rasse und das Psychogramm einer „normal kaputten“ Familie.

Dieser tolle und spannende Roman ist die Neuinterpretation eines Kriminalfalles, sehr lesenswert.

Carola Mirhoff

  • Autor/enAlexis Schaitkin
  • VerlagUllstein
  • Preis24€
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Aminata Touré: Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt

Aminata Touré ist Landtagsabgeordnete für Schleswig-Holstein und sich Ihrer Position als jüngste Landtagsvizepräsidentin Deutschlands mehr als bewusst. In ihrem ersten Buch reflektiert Sie umfangreich über politische Fragen. Wann ist etwas überhaupt politisch? Wie wird man eigentlich Politiker*In?

Sie erzählt aber nicht nur von Ihrem beruflichen Werdegang, sondern auch vom Aufwachsen als junge Schwarze in Deutschland. Vom alltäglichen Rassismus in Deutschland, die ihre Mutter unter anderem bewogen hatte eine Leiter zu kaufen, um bei der Vielzahl rassistisch motivierter (Brand-)Anschläge im Zweifelsfall die Wohnung über ein Fenster verlassen zu können.

Es bleibt interessanterweise nicht bei der einen Geschichte über Tourés Mutter. Dem Erfahrungsschatz der aus Mali geflohenen Frau wird mehr Raum gegeben. Die Autorin lässt ihre Mutter einen eigenen Text zum Buch beitragen. Hier liegt das Faszinierende der Leseerfahrung: Aminata Touré handelt konsequent genau nach den Wertvorstellungen, unter anderem Teilhabe und Vielfalt, die sie in diesem Buch darlegt.

Gespickt ist das Buch außerdem mit einer Reihe von Tourés Gedichten. Diese Gedichte sind nicht nur unglaublich lesenswert, sondern bereichern den Text um eine weitere, eine kunstvolle Perspektive. Es lassen sich viele Fragen an das Verhältnis von von Kunst und Politik anschließen.

Die Autorin liefert gleich noch eine Anleitung und wirklich dezidierte Erläuterung des politischen Alltags ab. Das Für und Wider eines solchen Berufs wird genauso weitsichtig abgewogen, wie die Grenzen und Chancen politischen Engagements auf unterschiedlicher Ebene.

Bestechend sind vor allem die ambitionierten Versuche für marginalisierte Gruppen Fortschritte zu erzielen, bei gleichzeitig differenzierter Darlegung von Tourés Erfahrungen im Politikbetrieb. Manchmal sei politische Arbeit nur Abwenden von Rückschritten und schlechten Entscheidungen. Der Anspruch bleibe aber die Entwicklung hin zu einer vielfältigen Gesellschaft. Verbunden wird das mit einem klaren Appell sich einzubringen wo möglich und wie es einem möglich ist. Das Buch ist gleichermaßen politische Standortbestimmung der Abgeordneten wie Analyse unserer Gegenwart.

Sachbuch, Biografie, Lyrikband, Anleitung und Beitrag der eigenen Mutter als Beispiel für das große Wissen der ersten Generation von Einwanderern. Dieses Buch hat fraglos einiges zu bieten. Man kann sich folglich dem Eindruck nicht entziehen, dass Aminata Touré nicht bloß ein weiteres Pamphlet entwickelt, sondern vermutlich die Messlatte für zukünftig erscheinende politische Sachbücher gehoben hat.

Simone Spelten

  • Autor/enAminata Touré
  • VerlagKiepenheuer & Witsch
  • Preis14€
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Sadie Jones: Die Skrupellosen

Mit ihrem neuen Roman hat Sadie Jones einen richtigen Pageturner vorgelegt:

Die Spannung wächst von Seite zu Seite, die menschlichen Abgründe, die sich immer mehr entfalten, sind geradezu gruselig. Was am Ende bleibt: nahezu Schockstarre, die auch an der überraschenden Wendung am Buchende liegt.

Doch worum geht es? Bea, eine Tochter aus einer extrem vermögenden Familie heiratet den armen Künstler Dan und lebt mit ihm glücklich aber in recht bescheidenen Verhältnissen in London. Sie hat ihm nichts von ihren superreichen Eltern erzählt und auch nicht davon, dass sie vorhat, ihr Erbe auszuschlagen. Die Verachtung vor allem ihrer Mutter gegenüber ist so groß, dass sie versucht, jeden Kontakt zu meiden.

Bea und Dan beschließen, eine mehrmonatige Reise durch Europa zu machen und dabei Station bei Beas Bruder Alex in Frankreich zu machen. Dort betreibt er auf dem Land ein Hotel.

Von Anfang an fühlt Dan sich unwohl: Beas Bruder ist ihm unsympathisch und suchtkrank, das Hotel vernachlässigt und im Grunde nur Fassade, bezahlt von den Eltern. Zu Beas Entsetzen reisen ihre Eltern an. Dan wird immer klarer, welch Vermögen Beas Vater in der Immobilienbranche angehäuft hat. Beas Hass und Abscheu versteht er nicht, und die Verlockung des Geldes macht nicht vor ihm Halt.

Als Alex tot aufgefunden wird und die Polizei schließlich Mord vermutet, gerät Dan ins Visier der Ermittler. Die Rolle der Eltern wird ebenfalls immer undurchsichtiger.

Der Buchtitel der englischen Ausgabe ist viel treffender: The Snakes. Denn es geht nicht nur um Skrupel, sondern um Doppelzüngigkeit, um die Vielschichtigkeit der Menschen, die wie bei den Häutungen einer Schlange Stück für Stück ans Tageslicht kommen.

Carola Mirhoff

  • Autor/enSadie Jones
  • VerlagPenguin
  • Preis22€
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Olivia Jones: Ungeschminkt. Mein schrilles Doppelleben

Spätestens mit dem internationalen Erfolg des Fernsehformats RuPauls Drag Race hat die Drag Kultur den Mainstream erreicht. Was aber, wenn man scheinbar die einzige Drag Queen ist, die die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit für sich gewinnen kann? Und dann auch noch in Deutschland?

Olivia Jones wird vielen noch in Erinnerung sein als so genannter Paradiesvogel bei der Wahl zum Bundespräsidenten 2017. Da überragte Jones, eingeladen von Bündnis 90/Die Grünen, die anderen Anwesenden um etliche Zentimeter und war in schrillen Farben gekleidet. Auch als Jones Abend für Abend im RTL Dschungelcamp zu sehen war, konnte sich niemand mehr ihrer Präsenz entziehen. Weniger bekannt ist: Jones war bereits 1997 zur Miss Drag Queen of the World gekrönt worden!

Dabei waren die Anfänge mehr als holprig. Aufgewachsen in der Provinz mit Hang zur Gothic Szene und entsprechender Aufmachung fiel Jones bereits auf. Damals rümpften nur die Nachbarn die Nase und Olivia hieß noch Oli. Zementiert wurde das Außenseitertum durch eine äußerst turbulente Familiengeschichte, die man lieber selbst nachliest.

Hervorzuheben bei dieser wundervollen Biografie ist aber vor allem der Pragmatismus der Olivia Jones. Widerstandsfähig wie keine Zweite nutzte die Künsterlin schon immer die Gunst der Stunde, machte sich schwierige Situationen zu Nutze und zeigte sich als äußert kollegiale Unternehmerin in ihrer Wahlheimat Hamburg. Hier verfolgt sie eine interessante unternehmerische Strategie. So sollen nur Angebote gemacht werden, die es im Dunstkreis der Reeperbahn noch nicht oder eben nicht mehr gibt.

Ihr gesellschaftliches Engagement und ihr Witz sind dabei unvergleichlich. Bezeichnet sich Jones zwar als chronisch 29-jährig, lässt sie aber auch ernste Themen nicht aus. Erschütternd zu lesen sind zum Beispiel brutale Übergriffe, Beleidigungen und Ausgrenzung, die sie Zeit Ihres Lebens begleitet haben.

Anekdote um Anekdote baut die Biographie ein Bild, nicht weniger schillernd als der Glimmerlidschatten seiner Protagonistin. Heute ist Jones eine Größe der Veranstaltungs- und Kneipenszene St. Paulis und Aktivistin für Toleranz und Vielfalt.

Vergleichbar breit gefächert ist das Angebot der eigens gestrickten Olivia-Jones-Familie. Von Vorträgen und speziell konzipierten Kiez-Touren über die Veröffentlichung eines Kinderbuchs und einem Streamingangebot von Veranstaltungen ist einiges dabei.

Entstanden ist das Buch unter Mitarbeit von Lena Obschinsky.

Erfahren Sie mehr über die Mission der Olivia-Jones-Familie hier.

Simone Spelten

  • Autor/enOlivia Jones mit Lena Obschinsky
  • VerlagRowohlt Taschenbuch
  • Preis12€
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Eva Menasse: Dunkelblum

Alle erinnern sich an etwas. Aber an was genau? Und wollen sie sich überhaupt erinnern?

Im Jahre 1989 kommt in Dunkelblum, einem fiktiven österreichischen Örtchen im Burgenland vieles zueinander: Eine Gruppe junger Linker beginnt, einen vernachlässigten jüdischen Friedhof zu sanieren. Ein junges Mädchen aus Dunkelblum, das sich der Gruppe angeschlossen hat, beginnt die dörfliche Vergangenheit zu erfragen und verschwindet plötzlich. Ein Flüchtender aus der DDR kommt über die österreichisch-ungarische Grenze nach Dunkelblum und wird verprügelt. Am Dorfrand wird bei Grabungen, die zur zukünftigen Klärung der Wasserversorgung beitragen sollen, eine Leiche aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Und wo sind die Aufzeichnungen einer kürzlich verstorbenen Einheimischen, die Licht in das Dunkel der Nazi-Vergangenheit Dunkelblums bringen könnten?

Eva Menasses Roman ist ein vielstimmiges Sozio-Panorama eines Dorfes, dessen Gegenwart auch viele Jahrzehnte nach dem Krieg immer noch von den Folgen eines verschwiegenen und verdrängten Verbrechens vergiftet wird. Mit schwarzem Humor und manchmal bitterer Ironie oder Komik beschreibt sie die verkrusteten Strukturen des Dorfes.

Es lohnt sich, diesen sprachlich ausgezeichneten Roman zu lesen, auch ohne das Wissen um die reale Vorlage: Im burgenländischen Rechnitz wurden im März 1945 von Männern der NSDAP fast 200 jüdische Zwangsarbeiter ermordet. Eingeladen hatten Graf und Gräfin Batthany. Bis heute wurden nicht alle Leichen gefunden, ein Gerichtsprozess brachte keine Klärung, die Identität der Täter konnte nicht geklärt werden, oder sie waren geflüchtet. Die Rechnitzer hatten kein Interesse an der Aufklärung des Massakers.

Carola Mirhoff

  • Autor/enEva Menasse
  • VerlagKiepenheuer & Witsch
  • Preis25€
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Callan Wink: Big Sky Country

August wächst als Kind einer Farmerfamilie sehr behütet auf dem Land auf. Aber seine Mutter wünscht sich eine andere Zukunft. Nach der Scheidung zieht sie mit ihm nach Montana. Nicht nur die Landschaft ist hier völlig anders, auch das Leben von August und seiner Mutter verändert sich. Sie bildet sich fort und nimmt einen Job an. Er ist Teenager und muss sich den typischen Herausforderungen stellen. August ist eher zurückhaltend, beobachtet allerdings sehr genau, was um ihn herum passiert.

In den Ferien kommt er zurück in seine alte Welt: Er besucht seinen Vater, arbeitet auf der Farm mit und beginnt sich zu fragen, wohin er gehört. Welcher Weg ist der richtige für ihn? Freunde kommen und gehen, ebenso wie die erste Liebe. Er entscheidet, sich nicht zu entscheiden, ob er nach dem Schulabschluss studiert oder eine Ausbildung macht, sondern zieht durchs Land.

„Die ruhige, bildhafte Sprache beschreibt die Landschaften und Gefühle großartig“, sagt Grit Konietzko, „und es bringt den Leser zurück in die eigene Zeit als Teenager.“

Dieser Buchtipp wurde bereits in leicht veränderter Form im Stadtteilmagazin Ehrenfelder von Vicky Marschall veröffentlicht.

  • Autor/enCallan Wink
  • VerlagSuhrkamp
  • Preis23€
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